Interviews mit Chomsky
Noam Chomsky ist Linguist und betätigt sich am liebsten als Kritiker der Politiker. Was er über
die Weisheit des Militärs, die Gründe des Hasses auf die USA und die politische Vergesslichkeit
zu sagen hat, erfahren Sie in dem folgendem Interview, dass Willi Winkler für die
Sueddeutschen Zeitung mit Noam Chomsky geführt hat.
SZ: Mr. Chomsky, am Anfang Ihrer akademischen Laufbahn haben Sie Hebräisch unterrichtet.
Heute kritisieren Sie die Politik Israels.
Noam Chomsky: Als junger Mann war ich politischer Aktivist und kämpfte für einen
sozialistischen Bi-Nationalismus, der auf einer jüdisch- arabischen Zusammenarbeit beruhte. Meine
Frau und ich reisten 1953 nach Israel, lebten im Kibbuz und überlegten, ob wir bleiben sollten.
Hätte ich den Job am MIT nicht bekommen, wäre ich wohl dort geblieben.
SZ: Was hätten Sie denn dort gemacht? Als Gärtner gearbeitet?
Chomsky: Wahrscheinlich hätte ich mit jedem gestritten. Mir hat es da sehr gefallen, aber
ich war bei verschiedenen Sachen deutlich anderer Meinung. Es handelte sich um ein sehr
linksgerichtetes Kibbuz, eigentlich das Zentrum der Arbeit mit Arabern, aber es war auch
super- stalinistisch. Und ich war von klein auf antibolschewistisch.
SZ: Wie sind Sie dann zur Linguistik gekommen?
Chomsky: Das College langweilte mich so fürchterlich, dass ich mit 16 praktisch aufhörte.
Durch politische Kontakte lernte ich Zellig Harris kennen, der in diesen bi-nationalen
zionistischen Gruppen mitarbeitete. Er war, wie ich erfuhr, der Leiter der Linguistikabteilung
meiner Hochschule. Ich habe aber keinerlei akademischen Qualifikationen, ich besitze kein Diplom
oder einen richtigen Abschluss.
SZ: Aber Sie sind doch Professor?
Chomsky: Am MIT, denen war das wurscht. An einer richtigen Universität hätte ich nie
Professor werden können, weil mir die formalen Voraussetzungen fehlen.
SZ: Wenn Sie sagen, Sie waren ein Anti- Bolschewik, waren Sie dann Trotzkist?
Chomsky: Nein, auch kein Trotzkist. Als ich zwölf war, hatte ich all diese Phasen durch.
SZ: Schon mit zwölf?
Chomsky: Ja, und ich wurde dann ein Art linker Anarchist.
SZ: Hier im Regal stehen Bücher von Rosa Luxemburg.
Chomsky: Das müssen noch die Bücher sein, die ich mir vor 60 Jahren in New York gekauft habe. Vor
der bolschewistischen Revolution in Russland gab es eine Strömung im Marxismus, die
anti-bolschewistisch war - Rosa Luxemburg, Liebknecht, Anton Pannekoek -, sie stehen alle hier.
SZ: Haben Sie dafür auch Deutsch gelernt?
Chomsky: Nur ganz wenig.
SZ: In einer Fußnote der "Generativen Textgrammatik" zitieren Sie Wilhelm von Humboldt. Es
geht darum, wie sich mit Hilfe internalisierter Regeln neue Sätze bilden oder "generieren"
lassen. Sie führen das "Generieren" auf den Begriff "erzeugen" bei Humboldt zurück.
Chomsky: Ich weiß nicht, ob Sie je Humboldt gelesen haben, er ist ein sehr schwieriger
Schriftsteller. Selbst Muttersprachler rätseln, was in diesen dunklen Sätzen ausgesagt ist. Ich
habe Humboldt mit Hilfe eines Freundes aus Deutschland gelesen - Hans Viertel. Sein Bruder wurde
ein bekannter Drehbuchautor...
SZ: Peter Viertel, der "African Queen" mit Humphrey Bogart und Katharine Hepburn
geschrieben hat.
Chomsky: Hans hatte mit Brecht und Fritz Lang gearbeitet, bei "Hangmen Also Die". Wir
gaben uns große Mühe, Humboldt zu verstehen. Wir entdeckten eine Stelle, an der er überlegt, wie
Sprache entsteht. Es war kein neuer Gedanke, er zieht sich durch die ganze Aufklärung und die
Romantik und geht wahrscheinlich auf die Philosophie von Descartes zurück. Es steht doch alles
schon bei den Klassikern, sie werden nur nicht gelesen.
SZ: Nur gelehrt.
Chomsky: Oder anthologisiert. Sie müssen zum Text zurückgehen und sich anschauen, was und wie im
18. Jahrhundert gedacht wurde - das ist zufällig mein Lieblingsjahrhundert -, und seitdem ging es
natürlich nur bergab.
SZ: Kein Einspruch, Euer Ehren.
Chomsky: Humboldt sagt es sehr poetisch: Wenn man ein schönes Objekt sieht, das jemand unter
Zwang und in Lohnarbeit angefertigt hat, dann können wir zwar bewundern, was dieser Mensch
geleistet hat, werden aber das verachten, was er ist. Humboldt spricht da von fremdbestimmter
Arbeit im Unterschied zum eigenen kreativen Wollen.
SZ: Das ist ja reiner Marxismus.
Chomsky: Nein, es verhält sich genau umgekehrt: Marx hat von der romantischen Tradition
gelernt. Das ist das Milieu, in dem er aufgewachsen ist. Die Romantiker entwickelten eine
kritische Lesart der Aufklärung, und so fand sie Eingang in den frühen Marx.
SZ: Aber jetzt was anderes: Ist es nicht so, dass das MIT vom Militär mitfinanziert wird?
Chomsky: Wieso nur mitfinanziert? In den 60er Jahren, als ich gegen Vietnam protestierte,
habe ich in einer Abteilung gearbeitet, die zu 100 Prozent vom Militär finanziert wurde.
Lustigerweise war es damals eine viel offenere und liberale Einrichtung als heute, wo die großen
Firmen Einzug gehalten haben. Der Grund ist einfach: Das Pentagon begreift, was die meisten
Wirtschaftsleute nicht zu verstehen scheinen, nämlich dass die Wirtschaft auf einem sehr
dynamischen Staatssektor basiert, der gefördert werden muss. Und diese Förderung kam im
wesentlichen vom Militär. Die gesamte moderne Wirtschaft, die so genannte new economy - Computer,
Internet, Telekommunikation, Automatisierung, Laser -, entstand im Staatssektor und kam zumeist
aus dem militärischen Bereich.
SZ: Sollten Ihre Forschungen nicht auch militärisch genutzt werden?
Chomsky: Dafür waren sie viel zu abstrakt. Das Militär hat meine Arbeit finanziert, aber
das Ergebnis war denen egal.
SZ: Aber sollten nicht die Grundregeln Ihrer generativen Grammatik jedem Soldaten in den
Rucksack gepackt werden für den Fall, dass er im fremdsprachigen Ausland abgeschossen wurde?
Chomsky: Das sagen die Leute, aber im Ernst dachte niemand daran. Ich habe es schon gesagt:
Die Militärs finanzieren Forschung und Entwicklung, weil sie annehmen, dass es sich früher oder
später auszahlen wird. Aber die eigentliche Arbeit hat sie nicht interessiert.
SZ: Und diese Militärs wollten Sie nie rausschmeißen, als Sie gegen den Vietnamkrieg
protestierten?
Chomsky: Vielleicht haben sie es erwogen, aber ich habe nie etwas davon erfahren. Und ich
war umstritten, ich habe Aktionen gegen den Krieg organisiert, ich war mehrfach im Gefängnis,
aber für eine Entlassung gab es kein Anzeichen.
SZ: Also doch was Gutes an Amerika.
Chomsky: Es gibt viel Gutes in Amerika. Ich wüsste kein anderes Land, in dem die freie
Meinungsäußerung so geschützt und gewahrt würde wie hier. Die akademische Freiheit ist hier echte
Freiheit.
SZ: Sie haben einmal geschrieben, "Staaten sind keine Agenturen für Moral", sondern
"Maschinen, die Macht ausüben". Deshalb wäre es absurd, von einem Staat Moral zu verlangen.
Chomsky: Staaten sind Instrumente der Macht, von denen erwartet man nichts anderes. Intellektuelle
zeichnen sich dadurch aus, dass sie so tun, als seien die Staaten Vertreter der Moral,
idealistisch, edel, gütig und so weiter.
SZ: Seit dem Kosovo-Krieg ist es wichtig, die Moral auf seiner Seite zu haben.
Chomsky: Aber war es denn je anders? Nehmen wir den Ersten Weltkrieg. Wie reagierten die
Intellektuellen auf allen Seiten auf den Kriegsausbruch?
SZ: Mit Vaterländerei.
Chomsky: Zweihundert deutsche Intellektuelle schrieben einen Brief, in dem sie die Welt
aufforderten, mit ihnen für die edle, also die deutsche Sache zu fechten. Die führenden
britischen Intellektuellen machten es genauso und die amerikanischen auch. Nicht dabei waren
Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht...
SZ: ...und Jean Jaurès, den man unmittelbar vor dem Kriegsausbruch 1914 sicherheitshalber
umbrachte.
Chomsky: Wer sich weigerte, bei dem patriotischen Fanatismus mitzumachen - es waren sehr
wenige -, wurde hart bestraft. Sie sehen, Kosovo ist nichts Neues.
SZ: Reden wir also vom kommenden Krieg. Die New York Times arbeitet seit Monaten gegen den
Krieg im Irak.
Chomsky: Die sind nicht gegen den Krieg.
SZ: Sie wenden "verfassungsrechtliche Gründe" ein.
Chomsky: Die kümmern sich nicht um die Verfassung, das taten sie noch nie. Aber viele sind
nervös wegen der furchterregenden Leute, die die Führungsmannschaft in Washington in der Hand
haben. Die New York Times und viele andere haben Angst, dass die USA deshalb in ernsthafte
Schwierigkeiten geraten könnte. Sie wollen, dass es funktioniert. Sie sind nicht dagegen,
solange wir keinen Schaden davon tragen.
SZ: Sogar der Kolumnist George F. Will wendet sich gegen einen Krieg, der nicht förmlich
erklärt wird.
Chomsky: Will ist ein Rechtsausleger. Das einzige grundsätzliche Argument gegen den Krieg
habe ich von Dick Army gehört, der Mehrheitsführer im Repräsentantenhaus ist und politisch noch
rechts von George F. Will steht. Army sagt, dass wir kein Land sein wollen, das ohne den
geringsten Vorwand einen Angriffskrieg gegen ein anderes Land führt.
SZ: Er ist also aus ästhetischen Gründen dagegen.
Chomsky: Nein, aus Prinzip. Es sind die gleichen Gründe, die uns gegen die russische
Invasion in Afghanistan aufstehen ließen. Es ist falsch, sagt Army, einen Angriffskrieg zu
führen, der nicht der Selbstverteidigung dient. Wir wollen keine Kriegsverbrecher sein, keine
Nazis. Aber man muss bis zur äußersten Rechten gehen, um so etwas zu hören.
SZ: Warum kommt diese Opposition diesmal von rechts?
Chomsky: Es gibt viele altmodische Konservative, die nicht davon begeistert sind, wie die
Regierung die staatliche Gewalt überdehnt. Diese versucht einen überaus mächtigen Staat mit
quasi-faschistischer Tendenz zu schaffen, und sowas mögen Konservative nicht. Sie wollen keinen
Staat, der so mächtig ist, dass er ohne Mandat operiert und tut, wonach ihn gerade gelüstet.
SZ: Aber so ist der Staat seit Thomas Hobbes definiert.
Chomsky: Der Staat vielleicht, aber das widerstrebt den Konservativen.
SZ: Von den Demokraten hört man nichts. Ist denn Außenminister Colin Powell neuerdings der
Oppositionsführer?
Chomsky: Das ist die Medieninszenierung. Haben Sie den geringsten Anhaltspunkt dafür, dass
Powell eine Taube ist?
SZ: Aber warum schweigt er?
Chomsky: Viele Leute schweigen. Sie wollen nicht als unpatriotisch gelten.
SZ: Mit guten Gründen. Vor einem Jahr standen alle wie ein Mann hinter der Regierung.
Chomsky: Die Intellektuellen vielleicht, die sind immer servil gewesen, aber nicht die
Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit zeigte eine sehr komplexe Reaktion: Viele empfanden den
Anschlag vom 11.9. als Weckruf. Sie begannen sich um das zu kümmern, was die USA in der Welt
anstellen. Die Frage, die sich jeder stellte, lautete: Warum hassen sie uns?
SZ: Also gut, warum hassen die Fundamentalisten die USA?
Chomsky: Natürlich ist das eine dumme Frage, denn die meisten Araber sind pro-amerikanisch und
lieben alles, was aus Amerika kommt. Sie hassen nicht uns, sondern die amerikanische Politik.
Warum hassen sie uns? Eisenhower, Kennedys Vorgänger, stellte genau diese Frage im Jahr 1958 vor
dem Nationalen Sicherheitsrat. Die Antwort: Die arabische Welt nimmt wahr, dass die USA brutale,
korrupte Regimes unterstützen und Demokratie und Entwicklung verhindern. Die Menschen wissen,
dass wir es tun, weil wir das Öl im Nahen Osten kontrollieren wollen. Gute Antwort, allerdings
bereits 44 Jahre alt.
SZ: Seitdem gab es diverse Kriege im Nahen Osten, der Schah wurde gestürzt und Saddam
Hussein kam an die Macht, aber die USA sind dort noch immer so beliebt wie in den 50ern.
Chomsky: Hass passt halt nicht in das Bild vom noblen, gutmütigen Staat voller guter
Absichten, der vielleicht manchmal einen Fehler macht.
SZ: Auf der Medienseite der New York Times stand gerade, dass Saudi-Arabien Millionen für
eine Werbekampagne ausgeben will, um sein Image aufzubessern.
Chomsky: Saudi-Arabien ist die extremste, die fundamentalistischste Gesellschaft auf der
ganzen Welt, aber ist das etwa neu? Jetzt allerdings ist es zum Thema geworden, weil 15 der
Leute, die sich mit einem Passagierflugzeug in das World Trade Center gestürzt haben, aus
Saudi- Arabien kommen. Genau davon war 1958 im Nationalen Sicherheitsrat die Rede: Warum hassen
sie uns? Weil wir solche Diktaturen aufbauen und unterstützen. Weil die USA Saudi-Arabien
unterstützten und sich dieser Zögling immer gut benahm, stellte sich nie die Frage nach dem
Warum.
SZ: Und jetzt wird ein unbotmäßiger Zögling wie der Irak zum Problem.
Chomsky: Wenn der Zögling gegen die Regeln verstößt, sieht die Lage anders aus; dann kann
man ihn angreifen. Natürlich ist Saddam Hussein ein großer Verbrecher. Aber worin bestehen die
Verbrechen von Saddam Hussein? Die schlimmsten beging er doch, als er der große Freund von
Margaret Thatcher, Ronald Reagan und George Bush senior war. Sie wussten Bescheid. Das Massaker
von Halabja fand im März 1988 statt, als Saddam Hussein fünftausend Kurden vergiften ließ. Aber
er stand auf unserer Seite, und darum kam es nicht so drauf an. Im Dezember 1989 überstimmte
der erste Präsident Bush sein eigenes Kabinett, um Saddam neue Kredite zu bewilligen. Anfang
1990, ein paar Monate vor der Invasion in Kuweit, schickte George Bush eine hochrangige
Senatsdelegation, angeführt von Bob Dole, dem späteren Präsidentschaftskandidaten, in den Irak,
um diesem Monster seine herzlichen Grüße ausrichten zu lassen und ihm zu bestellen, dass er sich
nicht um die Kritik kümmern solle, die er möglicherweise von amerikanischen Reportern zu hören
bekomme. In so hohem Ansehen stand er, dass er sogar ein US-Kriegsschiff angreifen und 35
amerikanische Matrosen umbringen konnte. Das einzige andere Land, das mit so etwas durchkommt,
ist Israel. Heute heißt es: Wie können wir einen Mann dulden, der sein eigenes Volk vergast hat?
Tut mir Leid: Sie haben ihn toleriert, als er es getan hat, und alle haben ihn mit
Dual-Use- Technologie versorgt, die der Massenvernichtung dienen sollte: die USA, Großbritannien,
Frankreich.
SZ: Wir wollen die deutsche Wertarbeit nicht vergessen.
Chomsky: Saddam Hussein war damals viel gefährlicher als heute. Er ist noch immer schlimm
genug, aber zumindest ist er durch die Flugverbotszonen eingeengt. Wenn Tony Blair und der
jüngere Bush jetzt erklären, wir können diesen Kerl nicht am Leben lassen, der sein eigenes
Volk mit chemischen Waffen umbringt, dann steht vielleicht jemand auf und ruft: Aber das hat
er doch mit unserer Hilfe getan!»
Interview: Willi Winkler, Quelle: "Sueddeutsche Zeitung"